Vom Verlieren, Finden und Plastikvögeln
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Ich komme am Otogar, dem größten Autobusbahnhof der Türkei, an. So etwas habe ich noch nie gesehen und denke sofort: “Das muss doch auch der größte Autobusbahnhof der Welt sein!” Er erstreckt sich über mehrere Etagen. Auf jeder dieser Etagen befinden sich kleine Geschäfte, Geschäfte des alltäglichen Bedarfs. Wie zum Beispiel Schuhgeschäfte (denn Schuhe kaufen, wenn man ein- um- oder aussteigt, das macht man doch!). Oder Apotheken. Oder Restaurants. Oder Minibaumärkte, die Keramikplatten in unterschiedlichen Größen verkaufen. Oder Autozubehör. Das macht wiederum Sinn an einem Busbahnhof. Jede Etage ist eine Stadt für sich. Untergeschoss, mehrere Mittelgeschosse, Obergeschoss. Jeweils viele kleine Städte unter- und übereinander, die sich nur in einem unterscheiden: dem Grad an Licht, welches durch dringt.
Auf nach Kadiköy
Mein Bus kämpft sich durch die engen Trassen von unten nach oben und kommt im hellsten Sonnenschein im Obergeschoss an. Ich steige in einen kleineren Shuttlebus um, der mich zum Fähranleger mitten in der Stadt bringt. Und zwar an den Fähranleger, mit dem ich auf die asiatische Seite Istanbuls komme, nach Kadiköy. Ruhiger soll es dort sein, etwas entspannter, gemütlicher als auf der europäischen Seite.
Ich springe noch schnell auf die Fähre auf, hinter mir schließen sich sofort die Türen, und im nächsten Augenblick überquere ich schon den Bosporus. Nicht mal nach einer Stunde in der Stadt darf ich den Ausblick auf die beiden Teile der Stadt, die sie verbindende Brücke und in der Ferne das Mittelmeer genießen. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, ich sitze oben an Deck, mache postkartenähnliche Handyfotos und genieße es, wie die Fähre sich und mich in Bewegung setzt. Der europäische Teil der Stadt, mit seinen Hochhäusern, seiner dichten Bebauung, seinen Hügeln, wird kleiner, während der asiatische Teil der Stadt näher kommt und trotzdem klein bleibt. Übersichtlich. Keine Hochhäuser.
Ich bin ganz gerührt von diesem Flecken zwischen Erde, Wasser und Himmel. Zum ersten Mal in Istanbul: es fühlt sich an, als würde ich etwas sehr bedeutendes erleben. Und das tue ich auch. Ich überquere Kontinentgrenzen, lasse Europa hinter mir, begrüße Asien. Bin auf dem Bosporus. Dieser Begriff war für mich immer mit Ferne, mit Exotik, mit Orient und mit einer komplett anderen Welt verbunden. Und nun bin ich mittendrin. Ganz überwältigt von meinen Emotionen und sogar etwas gerührt von meiner Rührung, laufen wir langsam in Kadiköy ein und passieren ein Gebäude, auf dessen Fassade in großen Lettern für die „Emotions“ Ausstellung geworben wird. Ich habe verstanden, Schicksal!
Schlafen und essen
Bei der Suche nach meiner Unterkunft verlaufe ich mich, frage nach, werde in die richtige Richtung geschickt, verlaufe mich wieder. Finde unterwegs kleine Imbisse, einen Gemüse- und Fischmarkt mit wunderbaren Farben und Gerüchen und denke mir so, dass das Verirren vielleicht zum Finden einfach dazu gehört. Vieles erinnert mich an Berlin. Die Gerüche, die Geräuschkulisse, die Menschen. Sie kaufen und verkaufen, drängen sich durch die Gassen, kehren irgendwo ein, essen, trinken, reden. Alles ist so wie es ist. Und ich mittendrin. Nicht wirklich verloren.
Irgendwann, wie durch ein Wunder, finde ich mein Airbnb Zimmer. Die Bewertungen auf der Website waren zwar nicht viel, aber positiv: great host, great host, we had a great time. „Great!“ denke ich. Ich steige die Treppe des engen Hauses hoch und klopfe an die Tür. Ein junger Mann, vom Profil weiß ich, dass er igendwas mit Musik studiert, macht mir die Tür auf. Ach, seine Freunde sind auch da. Sie sitzen gemütlich im Wohnzimmer und rauchen. Ein süßlicher Duft durchströmt die Wohnung. Great! Mein Zimmer ist in Ordnung. Bett bequem. Ich dusche und ziehe los. Getrieben von Hunger laufe ich durch die Straßen und lasse mich in einem Pide- und Lahmacunimbiss nieder. Wie zu Hause. Fast. Ich bestelle Lahmacun mit Ayran. Auf die frische Lahmacun kommen frischer Zitronensaft und frische Petersilie, die hier auf den Tischen in mittelgroßen Tupperdosen stehen. Das Prozedere schaue ich mir bei meinen Tischnachbarn ab und fühle mich ein bisschen so, als hätte ich Ahnung wie der Hase hier läuft.
Vogelzwitschertrillerpfeifen
Da Lahmacun nur als Vorspeise gelten kann, zumindest bei meinem Hunger, schlendere ich weiter und stelle mich an den Imbiss mit der längsten Schlange an. Man hört schließlich oft genug, das sei ein Qualitätsmerkmal. Und wenn ich eines habe auf Reisen, dann ist es Zeit. Ich kann warten. Ich bestelle gegrillten Fisch im Brötchen und werde gebeten mich zum Grillstand zu begeben. Vor mir wartet eine Frau, Hacer ist ihr Name, wie ich später erfahre, auch auf ihr Fischbrötchen. Sie lässt sich das Innere des Brötchens in eine Serviette packen. Ich muss etwas verwundert schauen, denn sie lächelt mir entschuldigend zu und sagt: „I will feed the birds.“ Just in dem Moment kommt ein Herr an uns vorbei, der Plastikvögel verkauft. Und zwar die Sorte, die man sich in den Mund steckt, durch pustet und Zwitschergeräusche erzeugt. Plastikvogelzwitschertrillerpfeifen sozusagen. Ich erwidere ihr: „Look, here is your first bird.“ Sie guckt mich etwas verwirrt an, hält meinen Blick eine Weile, als würden divergierende Gedanken durch ihren Kopf gehen, um mir dann zu entgegnen: „You have a sense of humour. Let’s eat together.“ Und so fängt mein erster Abend in Istanbul an. Mit Fischbrötchen, Hacer und einem ganz klitzekleinen Gefühl des Dazuzugehörens.